Haiku Imaging


Inspiration Wortkunst

Leichte Verse, leichte Bilder

Haiku. Verse wie Fotos. Zeilen zwischen zwei Vorhängen. Miniaturtheater für einen Plot, so kurz und knapp wie die allgeliebte 125stel. Mit leisem Fluidum dem Zen enthüpft, und man muss noch nicht mal in der Szene sein, um sich in sie zu verlieben.

Ihr Zauber kommt aus dem Nu. Sie entschlüpfen planlos, es wird nicht lange herumgefeilt - und doch gibt es strenge Regeln. Aber wer es kann, schafft es aus dem Stehgreif. Ohne nachzudenken schwimmt man ja auch, fährt mit dem Rad oder balanciert tagtäglich auf zwei Füßen, die ja im Grunde relativ klein sind: Haiku, eine tolle Entdeckung.

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Ich fotografiere einen Eindruck

Im Fokus ein Natur-Detail. Aber ich fotografiere nicht, wie dieses aussieht, sondern was ihm geschieht: Ich zeige ein Widerfahrnis - eines, das ich miterlebe. Der Moment als Motiv - naturbildnerisch beginnt die Neuerung schon hier.

Nette Motiven mit gezielter Gestaltung und toller Technik in schönen Bildern zu fixieren - das ist die gängige Lust fast aller Naturbildermacher gewesen. Zu den ersten der wenigen Ausnahmen zählen die impressionistischen Maler - auch ihnen ging es ja um erlebte Sekunden. Aber deren Bilder waren fürs Haiku noch zu komplex, die Konzepte und Farbtheorien noch viel zu klug.

Das Haiku geht weiter, ist fokussierte Impression in Reinform - so subjektiv und flüchtig, wie ein sekundischer Eindruck nun mal sein kann. Kein Zufall, dass Bilder von Sekunden oft so undeutlich aussehen; sie müssen es: Momente bewegen sich (Das Wort Moment kommt vom lat. movere) und sind, wie Cézanne einmal schrieb, so schnell vorbei, dass man sich beeilen muss. Ganz einfach.

Momente-Bilder entstehen nun mal nicht beim An-, sondern beim Zu-Sehen. Im Haiku wird eine solche Miniatur en passent zur intensiven Begegnung, die alten Haijin formulieren die Berührung als Gedicht - und ich versuchs mit einem Bild.

Wie sind Haiku?

Einfach

Für die japanische Klassik haben Haiku eine ähnliche Autorität wie für uns die Hexameter Homers. Aber einen wunderbaren Unterschied gibt es: Das Haiku ist sofort verständlich und niemals kompliziert. Es meint nichts anderes, als es sagt, und doch strahlt es Universen aus. Deshalb leben sie bis heute ohne Unterlass, während man Homer erst ausgraben und mit Stirnfalten studieren muss.

Direkter und zugleich persönlicher kann Kunst kaum sein: Die alten Götter muss keiner kennen, Bildung ist unnötig, alles Kluge sogar kontraproduktiv, nicht mal hypersensibel muss man sein, sondern einfach nur: empfindsam. Ihr Duft zwischen den Zeilen erschließt sich jedem, der sich aufmerksam zuwendet. Das kaum glauben zu können ist die größte Hürde fürs westliche Gemüt.

Erst in seiner Kleinheit lebt ein Haiku wirksam auf. Leise und reduziert kommt es wie aus dem Nichts daher und will, kaum dass es sich entdecken ließ, schon fast wieder verschwinden. Sie wird ja nur in den Raum gehaucht, kaum ausformuliert, bloß berührt, die kleine Entdeckung. So, wie sie mich berührt. Leicht wie ein leiser Luftzug, aber weit wie der ganze Wind.

Fürs Foto heißt das: Es muss nicht alles zeigen, darf undeutlich sein. Motivische Entblößung lohnt sich nur, wo Atmosphärisches danach verlangt. Gut sogar, wenn die Schärfe Räume lässt. Fokuslose Flächen sind Flure der Freiheit - im Gedicht glimmt hier das Zwischenzeilige auf - Areale, die ein stiller Zuhörer selbst füllt, ebenso wie ein aufmerksamer Bildbetrachter. Magritte soll einmal gesagt haben, für ihn geschehe Kunst eben nicht an der Staffelei, sondern erst an der Wand.

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Übersehbar

Wie es heißt, sah er selbst sich daher weniger als Künstler denn als Ermöglicher, darin aber durchaus als Meister seines Handwerks. Gekonnt werden will es ja schon, auch fürs gesprochene Haiku sind die formalen Regeln bekanntlich nicht ohne.

Prägnanz steht hier ganz oben. Also Kürze mit hohem Wirkungsgrad. Das Werk soll deshalb nur aus möglichst wenigen Lauteinheiten und Wortgruppen bestehen. Viele sprechen von Silben, Zeilen und genauen Zahlen; hier wäre ich vorsichtig, schon weil eine japanische Mora nun mal keine deutsche Silbe ist und selbst die großen Meister ihre Zahlenmodelle oft nicht einhalten. Im Zen ist der Moment immer stärker als das Dogma. Und genau diese Beweglichkeit ist ja auch Teil seiner Ästhetik. Sogar in Fernost scheinen Apollo und Dionysos einander die Hand zu reichen (Nietzsche lässt grüßen).

Weit mehr als solche Abzählerbsen kitzelt mich die einzigartige Idee, die hinter der dichterischen Disziplinierung steckt: Das echt Große erscheine immer im Kleid des Kleinen, heißt es in den alten Koans. Letztlich sei nichts einfacher erfahrbar als das gesamte All, kaum etwas so simpel wie das Göttliche, wie die Wahrheit, der praktizierte Friede oder die Liebe. Alles Großartige sei stets daran zu erkennen, dass es leicht ins Übersehbare passt. Manchmal allzu leicht - und macht es jemand kompliziert, hat er seinen Grund. Nicht ohne Sinn geschieht die Erleuchtung im Koan immer spontan und unerwartet, man stolpert, und zwar übers Kleine.

Nicht äußere Größe, Weite oder Wucht der Dinge, sondern menschliche Tiefe mache das spürbar. Weil nichts wirklich Wichtiges also jemals schwierig oder intellektuell verwuselt sein müsse, brauche auch kein wirklich bedeutender Satz jemals länger als ein Atemzug zu sein. Alles gehe kurz. Und klein. Der beliebteste Stolperstein ist unser Grips. Es klingt wie das erschreckend schöne ,Simplex sigillum veri' aus den Schriften des alten Seneca - und birgt eine hochinspirative Aufgabe...

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Aufmerksam

Haiku dichten heißt Gefühl zeigen. Das aber, ohne gefühlig zu sein. Ich streife nur, was ich unmittelbar sehe und fühle, nicht was ich dazu denke oder assoziiere. Mein Sehen avanciert zu einer Form des bloßen, denkbefreiten Fühlens, und das wird mein Werk tranzendieren.

Dasselbe gilt, wenn ich im Duktus des Haiku fotografiere. Weil kein Gefühl ohne Schatten kommt, wird mein Bild nie bloß hübsch oder gefällig, sentimental oder romantisch sein. Es wird nichts idealisieren, nicht mal Natur. Heile Welt hat keinen Platz, denn Kitsch tut bekanntlich jeden Schatten weg. Deshalb Vorsicht beim allzu schnellen Googeln des Begriffspaares Haiku und Fotografie. Und Vorsicht, wenn es allzu schnell den Sinnen schmeichelt.

Ein Haiku ist viel elementarer als eine Postkartigkeit. Es eignet sich auch nicht als Plakat. Und weil es direkt aus Begegnung entsteht, lässt es sich auch ohne künstlerische Ambitionen zwar sehr schön nutzen, aber nur als Wahrnehmungs- und Ausdrucks-, vielleicht noch als Empathie-Training (wenn man sowas überhaupt trainieren kann). Die Kamera erweitert all diese Fähigkeiten. Aber: Beschauliche Bedürfnisse, seichte Verheißungen, gestalterische Vorstellungen oder künstlerische Reflexionen - all das auszublenden ist nicht ohne. Es fiel auch mir anfangs nicht leicht. Es ist einfach zu schön, ein schönes Bild zu machen.

Kinder können es besser. Haiku-Lyrik hat nämlich nichts Elitäres, wie wir das aus der westlichen Dichtung kennen, sondern ist ausgesprochen demokratisch. Jeder kann es tun, und japanische Schüler üben schon in mittleren Klassen, draußen zu dichten. Sie trainieren damit die eben genannten Qualitäten. An der frischen Luft.

Genauso locker geht es fotografisch. Man muss kein Profi sein, kein Routinier - eine gewisse Unsicherheit, eine gewisse Distanz zum Medium fördert die bildnerische Beweglichkeit sogar. Mediale Grundkenntnisse reichen völlig aus, hier dominieren andere Qualitäten das fotografische Denken. Statt der Technik sollte man lieber dem verfallen, was sie ermöglicht.

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Zugewandt

Dazu passt die vielleicht wichtigste Eigenschaft des Haiku: Es ist nie nett, aber ausgesprochen liebevoll. Tu es nur mit Gefühl, heißt es, nie ohne. Mit klappt es immer, ohne aber nie. Hast du keins, tus nicht. Mich erinnert das an den paulinischen Gedanken über die Liebe, dass ohne sie garnichts gehe, mit ihr aber alles (schön zu lesen am Schluss seines zweiten Briefs an die kleinasiatische Korinthergemeinde).

Trotzdem verklärt das Haiku nichts, beschönigt nicht, auch wenn es gern zärtliche Züge trägt, etwa bei meinem ganz besonderen Favoriten, dem alten Dichtermönch Issa. Der lebt, was er fühlt, so sehr, dass er sich in ein fallendes Weidenblatt hineinversetzen kann. Samt aller Ängste und Freuden, die ihn als Blatt im freien Fall ergreifen würden. Alle Emotion richtet er aufs motivische Du, sie ist Hin- und Zuwendung par excellence, ein tiefes Drinsein ohne jeden Blick von oben oder außen.

Die Ergriffenheit, also das Subjektive, steht über Objektiven, über Prozessoren, Programmen und Boliden. Fototechnisches wird sekundär, Natur will nicht digital imitiert werden, sondern analog erlebt. Es geht um feine, eher spür- als nennbare Nuancen, nicht um verlässlich definierte Schritte. Nichts ist wiederholbar, alles einzigartig. Wie ein Gespräch.

Damit ich dieser Sichtweise trauen kann, muss ich mich herablassen. Herunter vom Ross des vertrauten digitalverbrämten Knowhows, herunter vom Ross, aus dessen Sicht ich nur das Erhabene in der Natur (the sublime) für fotogen halte, herunter auf Augenhöhe mit dem Leisen, dem Unscheinbaren, dem unvermittelt Habhaften. Merkwürdig? Ja. Aber Unvernunft war noch nie per se sinnlos.

Diese feine Form der Empathie fühlt sich weder süßlich noch weltfremd an. Im Gegenteil: Zunächst einmal steigert sie meine Achtung vor dem, was ich im Sinne der Übersicht oft übersehe. Irgendwas steckt drin in diesem Gegenteil des Überblicks...


Mit Vers oder ohne?

Ein Gedicht fotografieren?

Im Westen heißt es, am Anfang stehe das Wort, und es Heißt, man solle sich kein Bild machen. Auch das noch. Und das, obwohl jeder Bildern sogar noch lieber glaubt als Worten. Warum nur diese Hürde, das hab ich mich schon so oft gefragt - was will das Spirituelle da von mir? Was soll ich opfern?

Die japanische Tradition feiert eine wunderbare Kunstrichtung, die beide Lüste zusammenbringt. Im so genannten Haiga werden zwei eigenständige Werke sogar in einen Dialog versetzt: Man knüpft einen geheimnisvollen Faden zwischen sprachliche Poesie und eine teils kindlich anmutende, kalligrafische Tuschezeichnung. Und das mit einem Gewinn, der es in sich hat:

Beide können ,sich mögen', müssen es aber nicht. Zwischen ihnen darf ein harmonischer, ein konsonanter, aber auch ein dissonanter Raum spürbar werden. Sie müssen nicht harmonieren, sie dürfen durchaus ,sich streiten' - und das bis zu einem derart komplementären Gegensatz, dass ich beide Pole zusammen erst auf höherer Ebene wieder als eine in sich geschlossene atmosphärische Einheit empfinden kann.

Jeder ahnt, dass es eine solche Ebene irgendwie gibt. Wir würden sonst nicht streiten, unsere Meinung in Diskussionen nicht verteidigen, sondern weiterentwickeln. Wir brauchen eine solche höhere Ebene ja - bietet sie doch all dem, was wir nicht verstehen, einen Sinn, nach dem es sich vor Sehnsucht fast verzehren lässt.

Aber sie, diese Ebene, äußert sich immer verschlüsselt. Anders würden wir ihr nicht glauben. Mit vernünftigen Überlegungen, klaren Worten und wohlfokussierten Bildern lässt sie sich deshalb viel schwieriger hervorlocken als mit wohldosierter Nebulosität.

Damit meine ich keinen groben Wisch oder Defokus mit plakativem Bokeh, auch wenn ich die dafür erst üben musste. Aber wenn er fein ist, dieser Raum zwischen dem Gesagten, dem Festgehaltenen oder Fokussierten - dann finde ich es schon mal schön, dass es ihn überhaupt gibt. Allein schon wegen dieser verschlüsselten Schönheit fotografiere ich gern mit anderen zusammen Haiku.


Das autonome Haiku-Foto

Spannend, die neuen Sichtweisen, die ich dabei kennen lerne. Manche meiner Teilnehmer versuchen, ein bestimmtes Haiku konkret umzusetzen oder sich von ihm inspirieren zu lassen. Mit diesem Gedicht im Sinn nehmen sie die Kamera mit ins Grüne. Oder sie machen zuerst ein Foto und denken/suchen sich später dazu ein Gedicht aus.

Dazu mein Tipp: Gut, wenn dann weder das eine das andere illustrieren noch das andere das eine erklären soll. Das kann das kleine Haiku nämlich nicht. Haiku zu fotografieren muss nicht heißen, Worte in Bilder umzusetzen. Nur wenn sich beide wie von selbst verschwistern, behält das Ganze für mich seinen fernöstlichen Sinn: Dann lassen sich Räume voller Spannung entspannt erleben, und die ersehnte Ebene fällt mir eines Tages zu.

Mir persönlich entspricht es derzeit weniger, Vers und Bild zu verknüpfen. Ich brauche Luft beim Tun, möchte an nichts Gelesenes denken; die eigenständige Fotografie, die wie von selbst entsteht, liegt mir derzeit näher. Nach meiner Erfahrung kann auch sie wortelos den Duft solcher Poeme verhauchen.

Dafür sehe ich mir manchmal einige meiner Lieblinge aus der japanischen Klassik an. Erst wenn mich deren Stimmung in der Summe erfüllt, kommt der entscheidende Impuls. Dann nehme ich meine Kamera mit nach draußen, mache uns beide zu einem der Halme dort und schaue, was geschieht. Manchmal nichts, und manchmal kommt es zur Offerte. Ein gutes Haiku kann man nicht komponieren. Ich habe es bislang ebensowenig planen können wie eine unvermittelte Begegnung.

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Anders fotografieren

Emanzipation vom Hübschen

Vor hundert Jahren haben die Expressionisten der Kunstwelt etwas Befreiendes vorgeturnt. Die Malerei steckte seinerzeit ja in derselben Sackgasse wie heute die digital glattgebügelte Fotografie. Motive einfach nur nachahmen, das wurde zum NoGo, und hübsche Bilder machen hieß, etwas Wichtiges zu opfern: das Echte. Daraus zog die Avantgarde eine logische Konsquenz: ,Wir gewinnen das eine zurück, wenn wir uns vom anderen lossagen'. Überzeugender lässt sich die Gunst der Götter nicht bestricken, und ich finde, da lohnt es sich nachzuschwingen.

Die Lust aufs Ansehnliche ist abgegriffen, und mit dem fotografischen Haiku kann ich mich davon emanzipieren. Was gewinne ich, wenn ich Kontrolle verschenke, nicht versuche, poetisch zu sein, mich auch nicht bemühe um Komposition oder sonstige Ästhetika? Diese Lyrik ermuntert zum Testflug.

Ich suche kein Motiv. Das Paradies ist vor den Füßen. Banal-Fotogenes brauche ich nicht, aus dem Zen folgt: Gut ist, was da ist - und sollte ich das nicht so sehen können, habe ich mich nicht geöffnet. Dann bin ich vielleicht irgendwo anders, etwa bei einer Bildidee, einem künstlichen Anspruch an meine Kunst, an mein Selbstkonzept, meine späteren Bewunderer, vielleicht bin ich bei einem vernünftigen Gedanken - aber nicht bei mir. Nicht beim Du und nicht im Jetzt. Schwierig? Ja.

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Zen und die Kunst sich einzulassen

Fotos ohne gezieltes Motiv und ohne Gestaltung - das ist schon eine Vertrauensübung. Ich soll nehmen, was ich vor die Linse bekomme? Mich mit Initiativen meinerseits zurückhalten - geht das wirklich? Ist eine ,Aufnahme' eigentlich eine Auf-Nahme? Und ist ,Aufgabe' nur zufällig ein Teekesselchen? Wie viel leichter ist Geben als Nehmen? Aus Profi-Sicht bin ich es doch gewohnt, Fotos zu steuern; da bin ich der Geber und kenne mich als Vogt übers Viereck.

Nur beim Haiku scheint alles anders: Will ich zu sehr das Gute, verliere ich sofort das Echte. Vielleicht weil es Hybris wäre zu glauben, ich hätte das Gute und das Echte verstanden. Der Schlüssel scheint im Passivischen zu liegen, im schlichten Vermögen zu empfangen. Ohne damit etwas anzufangen. Irgendwas will sich von selbst ergeben.

Trete ich also zurück und tauche in die Halme ein! Durch den Sucher sehe ich mittlerweile nur noch zu Beginn einer Aktion. Im weiteren Verlauf löse ich mich von meiner Kontrolllust und lasse die Kamera fern vom Auge durchs Motiv schweben. Ach ja, ein bisschen festhalten, das tu ich schon. Der Rest ist Vertrauen. Eine schöne Naturübung.

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Abstraktion als Seh-Hilfe

Klar wird das nicht gerade eine Huld ans scharfe Detail. Aber Unschärfe ist ohnehin etwas Tolles. Weniger wegen ihres Designs - nein, mit ihr kann ich manches, was mir wichtig ist, viel leichter formulieren. Das Undeutliche funktioniert ohne Worte, ohne Denken, lässt sich wunderbar nuancieren, und oft war mir die Grenze zur Abstraktion genauso unklar wie die Unschärfe selbst. Aber eines bemerke ich jedesmal: Manchmal sehe ich mehr, wenn ich weniger sehe. Zumindest wenn ich nicht zu viel vorgebe. Deshalb muss für mich ein fotografiertes Haiku nicht unbedingt gegenständlich sein. Es will ohnehin etwas anderes als Dinge offenbaren. Die Grenze zum Abstrakten ist ein Angebot aus dem Zwischenzeiligen. Es geht um Berührung. Zumindest Andeutung.

Der Raum ist das Ziel. Der Weg durch ihn gelingt bisweilen leichter, wenn mein Foto abstrahierter ist, also eher durch Linien, Formen, Farben, Strukturen oder Kontraste lebt als durch Motiv oder Location. Ohne dingliche Vorgaben hat ein Betrachter ganz persönliche Freiheiten, seine Assoziationen ins Werk zu projizieren. Insbesondere beim dissonanten Haiga bietet das nur Umzeichnete sinnliche Räume, die jeder auf eigene Weise öffnen und füllen kann. Wie schön, wenn ein Poem nicht gleich so klar ist.

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Technik

Was ich brauche

Die meisten Miniaturen aus den Gedichten finden im Kleinen statt, also im Nahbereich. Das spricht schon mal für makrotaugliches Equipment. Außerdem liebe ich es, wenn sich im Hintergrund ein fein verteiltes Mélange aus Ruhe und Vitalität ergibt. Das schafft Tiefe, nimmt dem Bild das Motivzentrierte und lenkt den Blick vom Fokussierten in den freien Raum hinein.

Eine Einladung, für die ich reduzieren muss. Am leichtesten geht das mit hohen Lichtstärken, großen Abbildungsmaßstäben und längeren Brennweiten. Sehr gute Erfahrungen habe ich mit namenlosen Tele- und WW-Konvertern gemacht, aber auch mit zweckentfremdeten Porträtobjektiven, Zwischenringen, unterkorrigierten Nahlinsen und eigenen Linsenkombinationen.

Auch die Nachbearbeitung empfinde ich Genre-spezifisch. Viel greife ich zwar nicht ein, für mich steht das Erlebnis über dem Ergebnis; meine Haiku geschehen on location, nie an der Maus. Aber je nach Stimmung kommt es schon vor, dass ich am Rechner gern mildere, was mir visuell ein wenig laut vorkommt. Ein leicht besänftigter Touch, etwa in der Chroma, im Gamma und in lokalen Kantenkontrasten kommt der zurückhaltenden Leisigkeit zugute, die diese poetischen Miniaturen ausstrahlen. Diese genuine Leisigkeit mag ich besonders, und sie lässt sich so schön mit der Teezeremonie, der Gartenkunst oder den luftigen Gestecken des Ikebana assoziieren.

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Was ich nicht brauche

Den Luxus des technisch Unperfekten leiste ich mir besonders gern, er fügt sich entspannt in die undogmatische Aura des Zen. Die ewigen Diskussionen über Qualitätsverluste durch nichtetablierte Linsen überlasse ich mit Verlaub gern den üblichen Aberrations-Ängstlichen in den Online-Foren. Ich widme mich lieber Bildern, die meinem Erleben entsprechen und Spuren tragen, die das Medium typischerweise selbst hinterlässt.

Fotografisch durchgelebt, aber im Haiku-Sinn überwunden, das ist bei mir die in die Jahre gekommene naturalistische Digitalgläubigkeit. Gerade bin puncto Reduzieren sind mir mit geächteten NoGos oft bessere Bilder geglückt als mit aufwändigen Apochromaten. Manchmal muss man Dinge opfern, um die Götter gnädig für einen Gewinn zu stimmen, der nicht zu vermuten stand.


Was bringt Haiku der Fotografie?

Fotografische Frischzellenkur

Sie dümpeln seit Jahren, stagnieren vor sich hin, haben kaum Kunstepochen wie die Malerei: Stilistische Neuerungen in der Makro- und Landschaftsfotografie sind vielfach bloß Folge technischer Innovationen. Sie haben oft nur designerischen Sinn, reduzieren irgendeine Fehlerquote oder erschließen hier und da ein paar neue Motivsituationen. Aber schon jetzt ist etwa HDR fast ebenso verschwunden wie Skylightfilter oder Winkelsucher. Nicht aber die Lüste auf Bilder aus eigener Feder.

Die Crux: Das Persönliche, das zutiefst Existenzielle, das innerlich Erlittene haben zahlreiche Künste vielen etablierten Fotogenres voraus. Erst recht im Grünen. Irgendwie bekommt es da diese Kunst nicht hin. Gerade die Draußenfotografie lahmt. Und ich denke: Das ist heilbar.

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Weisheit aus der Heimat unserer Kameras

Die meisten gängigen Kameras kommen aus Kulturräumen mit hochspannenden Weisheitstraditionen. Dort nur die industriellen Rosinen herausnehmen hieße, voneinander zu trennen, was verschwistert ist. Warum nicht die Autorität des Alten mit der des Neuen zusammen betrachten, wenn das bessere Bilder macht? Und zudem sogar menschliche Qualitäten befügeln kann, die vielleicht aktueller sind denn je?

Diese Qualitäten fomulieren nämlich Friedliches: Die Kunst des Haiku ermuntert, Augenhöhe mit der eigenen Unwichtigkeit zu ertragen. Sie schult Wachsamkeit, Wahrnehmung und Wertschätzung vor dem Übersehbaren. Sie nimmt Angst vor einem neugierigen Blick aufs Du, selbst wenn dieses fremd ist oder völlig unscheinbar. Wer kann sich schon empathisch mit einem abgeknickten Grashalm austauschen, ohne zu befürchten, dass es jemand sieht.

Ob gedichtet oder fotografiert: Ein gelungenes Haiku zeigt, wie sich gerade das Kleine als Signum des Großen verstehen lässt und jedes Wesen, jeden Zustand, jeden Wunsch und jede Furcht im Licht einer Entwicklung, die nie aufhört - ein Trost fürs Trübe, eine Mahnung ans gängige Vertrauen ins allzu Nette und Hübsche.

Das Credo der alten Haijin: Nie ist etwas perfekt, vollkommen oder fertig. Es gibt kein Ende, keine reinen Verluste, alles wird schöner: meine Motive, mein Medium, der Mut zum Neuen, den ich gestern noch nicht hatte - deshalb auch wir. Ist nicht das schon schön?

© Martin Timm 2015, Text und Fotos - Ausnahme: Für das LivePorträt im Grünen danke ich Birgitta Petershagen, Köln